Folge #10 | Brückennarrative, Extremismus und die „Mitte der Gesellschaft“

Shownotes

Wir widmen uns einem Thema, das im Arbeitsbereich der Islamismusprävention viel diskutiert wird: phänomenübergreifende Präventionsarbeit. Dazu haben wir jeweils eine Expertin aus der Wissenschaft, Manuela Freiheit, und aus der Präventionspraxis, Dženeta Isaković, eingeladen. Mit unseren Interviewpartnerinnen sprechen wir unter anderem darüber, welche Chancen, aber auch Grenzen, sie für phänomenübergreifende Arbeit jeweils sehen.

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KN: IX talks #10 | Transkript

KN: (O-Töne, Musik im Hintergrund)

Manuela Freiheit: Tatsächlich, diese sogenannten Brückennarrative oder Brückenelemente sind sehr anschlussfähig eben an Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft, beziehungsweise widerspiegeln auch Einstellungen, die weit in der Bevölkerung verbreitet sind.

Dženeta Isaković: Da halte ich es für sehr sinnvoll, phänomenübergreifend zu arbeiten, weil wir uns ja die menschenfeindlichen Positionen anschauen, die in der Mitte der Gesellschaft auch vorhanden sind. Dass man da zeigt, die kommen nicht nur von einer Gruppierung in der Gesellschaft, sondern die kommen von ganz unterschiedlichen Ecken. Und die sind auch eben bei nicht extremistisch orientierten Menschen vorzufinden.

Dženeta Isaković: (Musik im Hintergrund)

Charlotte Leikert (Intro KN: IX talks): Herzlich Willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die im Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks – überall da, wo es Podcasts gibt.

Charlotte Leikert (Intro KN: (Musik im Hintergrund)

Charlotte Leikert (KN: IX): Hallo und herzlich Willkommen zur zehnten Folge von KN:IX talks. Schön, dass Sie, zum ersten Mal oder wieder, eingeschaltet haben. Mein Name ist Charlotte Leikert und meine Kollegin Ulrike Hoole und ich werden uns heute gemeinsam dem Thema der phänomenübergreifenden Präventionsarbeit widmen. Phänomenübergreifende Arbeit, das ist auch das Thema unserer vierten Staffel hier bei KN:IX talks, denn es ist ein Thema, das die Präventionslandschaft in Deutschland gerade ziemlich umtreibt. Zum Auftakt der Staffel gucken wir uns heute an, was phänomenübergreifende Arbeit für die Islamismusprävention bedeutet. Dazu sprechen wir mit Expertinnen aus der Wissenschaft und der Praxis darüber, wann es sinnvoll ist, phänomenübergreifend zu arbeiten und wann PraktikerInnen damit auch tatsächlich an ihre Grenzen stoßen.

Ulrike Hoole (KN: IX): Als Vertreterin der Wissenschaft sprechen wir dafür mit Manuela Freiheit, die sich in verschiedenen Forschungsvorhaben genau mit diesem Thema, phänomenübergreifende Arbeit, schon auseinandergesetzt hat. Als Praktikerin haben wir Dženeta Isaković eingeladen, die aus ihrer eigenen Praxiserfahrung weiß, wie hilfreich phänomenübergreifende Arbeit manchmal sein kann.

Ulrike Hoole (KN: Wenn in dem Arbeitsbereich der Islamismusprävention von Phänomenen oder phänomenenübergreifendem Arbeiten besprochen wird, bezieht man sich häufig entweder auf Extremismusphänomene oder eben auf Ausprägungen der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.

Charlotte Leikert (KN: IX): Und bevor wir jetzt über phänomenübergreifende Arbeit sprechen, wollen wir nochmal kurz gucken, was denn diese beiden Begriffe oder diese beiden Perspektiven überhaupt bedeuten. Wenn man nämlich von Extremismus spricht, dann meint das offiziell eine Analysekategorie, die sich darauf bezieht, dass politische Bestrebungen die Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaates aktiv kämpferisch beseitigen wollen. Diese Prinzipien, die da beseitigt werden sollen, werden mit dem Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung beschrieben, auch oft abgekürzt FDGO. Und dadurch, dass eben diese Grundordnung abgeschafft werden soll, wird Extremismus als verfassungsfeindlich klassifiziert. Die Einordnung, was in Deutschland als extremistisch oder nicht extremistisch gilt, das übernimmt der Verfassungsschutz. Extremismus ist außerdem ein Überbegriff für verschiedene Phänomene und kann ganz unterschiedliche ideologische Prägungen haben. Die bekanntesten sind wahrscheinlich Rechtsextremismus, Islamismus oder Linksextremismus, der Verfassungsschutz klassifiziert aber noch ein paar weitere. Diese Perspektive auf Extremismus und die damit einhergehende Extremismustheorie wird aber in einigen Feldern kritisiert. Ein Kritikpunkt ist beispielsweise, dass zwei Pole, nämlich Rechtsextremismus und Linksextremismus, benannt werden, die scheinbar gleich weit weg von einer demokratischen Mitte entfernt sind. Oft hat man da auch dieses Hufeisen im Kopf und daher gibt es auch den Namen der Hufeisentheorie. Die damit einhergehende Gleichsetzung von Rechtsextremismus und Linksextremismus wird unter anderem in der Wissenschaft kritisiert. Ein weiterer Kritikpunkt an der Extremismus- oder Hufeisentheorie ist die Idee von der sogenannten demokratischen Mitte der Gesellschaft. Dadurch, dass Extremismus eben an den Rändern verortet wird, bedeutet das, dass die Mitte der Gesellschaft scheinbar frei von antidemokratischen Einstellungen ist und gänzlich demokratisch. Dass dem nicht so ist, zeigt unter anderem die Leipziger Autoritarismus-Studie, die seit 2002 alle zwei Jahre veröffentlicht wird. Diese stellt fest, Zitat: „Die mit dem Rechtsextremismus verbundenen völkisch-nationalen Ideologien und Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind nicht an einem Rand zu begrenzen, sondern in der Mitte der Gesellschaft verankert.“ Was das ganz konkret bedeutet, dazu haben wir einmal in die Autoritarismus-Studie von 2020 reingeguckt. Und zwar wurden unterschiedliche Menschen zu Aussagen befragt, denen sie zustimmen oder die sie ablehnen mussten. Und eine Aussage war beispielsweise: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maße überfremdet.“ Und immerhin 11 % stimmten dieser Aussage voll und ganz zu. 14,6 % stimmten überwiegend zu und 27,2 % der Befragten sagten teils, teils, also dass sie dem teils zustimmen und das teils ablehnen. Und das zeigt ja schon sehr gut, dass diese Aussage oder eine Zustimmung zu dieser Aussage nicht nur in ganz kleinen Teilen der Bevölkerung vorhanden ist, sondern weiter verbreitet ist, als man durch den Gedanken des Rechtsextremismus beispielsweise denken könnte.

Ulrike Hoole (KN: IX): Wegen dieser Kritikpunkte an der Extremismustheorie, die meine Kollegin Charlotte gerade erwähnt hat, arbeiten einige Organisationen in der Radikalisierungsprävention stattdessen mit dem Konzept der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, oft abgekürzt GMF. Der Begriff wurde vor allem von Wilhelm Heitmeyer geprägt und geht auf ein Forschungsprogramm der Universität Bielefeld zurück. Er bezeichnet die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Konkret drückt sich das dann zum Beispiel in Form von Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Rassismus oder aber auch beispielsweise der Abwertung von Obdachlosen aus. Für die Präventionsarbeit bedeutet das dann, dass man an Stelle von Phänomenen, wie zum Beispiel Rechtsextremismus oder Islamismus, Elemente dieser GMF, zum Beispiel Antisemitismus oder Antifeminismus in den Blick nimmt. Dabei gibt es natürlich auch Überschneidungen zwischen verschiedenen Phänomenbereichen. Beispielsweise finden sich sexistische oder queerfeindliche Einstellungen sowohl in rechtsextremistischen als auch in islamistischen Ideologien wieder. Daher kann man in gewisser Weise in diesem Fall auch von phänomenübergreifendem Arbeiten sprechen.

Ulrike Hoole (KN: Unter anderem über diese Gemeinsamkeiten und Überschneidungen haben wir mit Manuela Freiheit gesprochen. Manuela Freiheit ist Soziologin und seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Ihre inhaltlichen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Jugenddelinquenz, der Radikalisierung und Konfliktforschung sowie im Bereich der Extremismus- und Radikalisierungsprävention. Manuela Freiheit hat auch einen Artikel über phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention für unsere nächste Fachzeitschrift, die Ligante #5, die im November erscheint, geschrieben. Ja, Manuela, schön, dass du da bist. Als Einstiegsfrage vielleicht erst mal an dich, überhaupt erstmal so die Assoziation, es geht ja heute um das Thema phänomeneübergreifende Arbeit. Was kommt dir denn so in den Kopf, wenn du „phänomenübergreifendes Arbeiten“ hörst? Was ist das für dich?

Manuela Freiheit: Ja, erst mal vielen Dank, dass ich hier sein darf, ich freue mich sehr. Und, phänomenübergreifendes Arbeiten, also ich als aus der Forschung oder als wissenschaftliche Mitarbeiterin, ich habe natürlich erst mal ganz viele Assoziationen. Was bedeutet überhaupt phänomenübergreifendes Arbeiten? Und habe dann natürlich auch die Abgrenzung zu anderen Präventionsansätzen oder anderer Präventionsarbeit im Blick, wie zum Beispiel zu phänomenspezifischer Präventionsarbeit. Und phänomenübergreifende Arbeit ist für mich letztendlich nichts anderes, dass eben mehrere Phänomene in Betracht genommen werden in der Arbeit, in den jeweiligen Maßnahmen und Projekten und dass eben stärker allgemeine Risiken wie zum Beispiel Abwertungs- und Aufwertungsprozesse in den Blick genommen werden oder eben auch Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen. Und das widerspiegelt für mich eher phänomenübergreifende Ansätze, phänomenübergreifendes Arbeiten und nicht so sehr der Fokus auf einen Phänomenbereich, wie zum Beispiel den Rechtsextremismus oder den islamistischen Extremismus.

Ulrike Hoole (KN: IX): Was sind denn aus Sicht der Forschung Gemeinsamkeiten von Extremismusphänomenen und wo unterscheiden sie sich eventuell?

Manuela Freiheit: Es gibt natürlich zahlreiche Gemeinsamkeiten, die wir in den Ergebnissen der Radikalisierungsforschung beobachten können und die eben dann auch für phänomenübergreifendes Arbeiten sprechen. Das wären zum einen, mit Blick auf Hinwendungsmotive und eben auch Ursachenfaktoren oder Risikofaktoren wären das, dass wir beobachtet haben anhand der Ergebnisse, dass vor allem junge Menschen in der Adoleszenz immer stärker anfällig sind für extremistische Ansprachen, insbesondere wenn sie Schwierigkeiten haben, sich zum Beispiel vom Elternhaus abzulösen, ihre eigene Position in der Gesellschaft zu finden, also sprich eine eigene Identität zu entwickeln, ein eigenes Selbstkonzept. Weitere Faktoren wären zum Beispiel auch das Scheitern von ersten beruflichen oder schulischen Vorstellungen und Aspirationen, die sie haben, oder eben auch erste Enttäuschungen in Liebesbeziehungen. Also all das kann dazu führen, dass man empfänglich ist für extremistische Ansprachen. Und es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Und das wären zum Beispiel auch bestimmte biografische Erfahrungen oder eben auch familiäre Problemkonstellationen. Also wenn ich paar Beispiele nennen darf, dann wären das zum Beispiel Verlusterfahrungen, also der Tod eines Elternteils oder auch familiäre Belastungen nach einer Trennung, Krankheit oder auch Suchterfahrung, ebenso zum Beispiel auch innerfamiliäre oder außerfamiliäre Gewalterfahrungen können natürlich Personen anfälliger machen für extremistische Ansprachen und eben auch Radikalisierungsprozesse triggern. Aber auch jugendphasenspezifische Aspekte wie die Suche nach Grenzerfahrung, Abenteuer, Protest oder eben Sinn und Orientierung. Und aus der Einstellungs- und Vorurteilsforschung wissen wir eben oder können wir einen positiven Zusammenhang zwischen bestimmten Konfliktlinien, sei es sozialer, politischer oder ökonomischer Natur, feststellen und eben der Anfälligkeit für sogenannte gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen. Und insbesondere in krisenhaften Situationen können dann eben extremistische Gruppen eine anziehende Wirkung ausüben, die dann individuell, vielleicht eben als Verunsicherung, Kontrollverlust erlebt werden und sind dann empfänglicher für diese Ansprachen, die ihnen dann eben Angebote bieten, das Leben unter Kontrolle zu bringen. So, also das zeigt sich auch ganz stark, dass eben zwischen Unsicherheitserfahrungen, Kontrollverlusten und autoritären Einstellungen zum Beispiel ein großer Zusammenhang besteht. Und ein wichtiges Motiv auch, was eben für phänomenübergreifendes Arbeiten spricht und das natürlich dann eben in Ansätzen auch gleichsam adressiert werden kann, ist die Suche nach Zugehörigkeit, also das Versprechen, Teil einer besonderen Gemeinschaft zu sein. Also wir kennen das aus dem Rechtsextremismus ist das die Kameradschaft und aus dem islamistischen Extremismus zum Beispiel die Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit. Und das sind alles eben so Gemeinsamkeiten, die dafür sprechen, phänomenübergreifend zu arbeiten. Dann gibt es natürlich auch verbindende Elemente, also bestimmte ideologische Narrative, die phänomenübergreifend zu beobachten sind. Das sind insbesondere antisemitische Einstellungen, die sich häufig in Form von Verschwörungsmythologien und Verschwörungserzählungen zeigen. In der Wissenschaft sprechen wir dabei auch von sogenannten Brückennarrativen, die dann auch unterschiedliche extremistische Gruppierungen, wie man das zum Beispiel bei den Corona-Protesten sehen, auch vereinen, weil sie ein ähnliches Feindbild teilen. Also das können wie gesagt, antisemitische Einstellungen sein, es können aber auch antifeministische Einstellungen sein, und das führt zum Teil auch eben zu diesen dubiosen Allianzen, die wir gerade beobachten können. Und natürlich, phänomenübergreifende Ansätze haben eben diesen Vorteil, diese Wechselseitigkeit und diese Brückennarrative besser in den Blick zu nehmen, weil sie sich eben von ihrem Format nicht nur auf ein Phänomen konzentrieren, sondern das eben phänomenübergreifend in den Blick nehmen und insbesondere auch auf die Mechanismen, die Phänomene teilen, konzentrieren. Also wie zum Beispiel die Aufwertung der Eigengruppe, die Abwertung der Fremdgruppe, um die eigene Identität zu steigern, um den eigenen Selbstwert zu halten. Und das können phänomenübergreifende Ansätze etwas besser in den Blick nehmen. Auch die Wechselseitigkeit, also dass sich Phänomene gegenseitig hochschaukeln und bedingen können und eben auch gemeinsam radikalisieren können, weil sie eben auf ähnliche Feindbilder zurückgreifen.

Manuela Freiheit: (Musik)

Charlotte Leikert (KN: IX): Eine Ko-Radikalisierung wird meist in Bezug auf Rechtsextremismus und Islamismus diskutiert. Darunter versteht man, dass sich beide Bereiche gegenseitig hochschaukeln und eine Radikalisierung so verstärken können. Konkret bedeutet das, dass sich Islamist*innen auf rechtsextreme Akteure beziehen und umgekehrt. Dadurch beschwören sie jeweils ein Bedrohungsszenario und legitimieren so ihre ideologischen Positionen und Aktivitäten. Außerdem stellen beide Seiten den anderen Bereich als das scheinbar Normale dar, gegen das sie sich zu Wehr setzen. Für Rechtsextremist*innen sind etwa alle Musliminnen islamistisch, und Islamist*innen beschreiben die ganze Gesellschaft als rechtsextrem. Sie sind sozusagen die perfekten Feinde füreinander. Und das begünstigt eine gegenseitige Radikalisierung.

Charlotte Leikert (KN: (Musik)

Ulrike Hoole (KN: IX): In Bezug auf die Brückenelemente, kann man denn auch sagen, dass diese Brückennarrative dann auch die Narrative sind, wo zum Beispiel verschiedene extremistische Phänomene auch an die sogenannte Mitte der Gesellschaft andocken. Was würdest du dazu sagen?

Manuela Freiheit: Ja, definitiv. Also tatsächlich, diese sogenannten Brückennarrative oder Brückenelemente sind sehr anschlussfähig an eben Einstellungen in Mitte der Gesellschaft beziehungsweise widerspiegeln auch Einstellungen, die weit in der Bevölkerung verbreitet sind. Und ich finde es immer noch mal ganz gut, sich zu vergegenwärtigen, was wir überhaupt mit Narrativen meinen und wie sie funktionieren. Also und dann lässt sich das auch noch mal sehr gut illustrieren, wie eben bestimmte Narrative eben anschlussfähig sind an Einstellungen in weiten Teilen der Bevölkerung. Und ein Narrativ ist ja letztendlich nichts anderes als eine sinnstiftende Erzählung. Also diese Narrative sind etablierte Geschichten, die wir internalisiert haben, und sie geben uns einen gewissen Deutungsrahmen vor. So, sie stiften Sinn, beinhalten bestimmte Wertvorstellungen, knüpfen an Emotionen an und von daher ist es auch nicht wirklich verwunderlich, wenn wir uns diese Funktion und Wirkweise von Narrativen vergegenwärtigen, warum eben auch populistische und extremistische Akteure an Narrative, die bestehen, sogenannte Brückennarrative, anknüpfen und eben auch anschlussfähig sind in der Mitte der Gesellschaft. Und aus der Forschung auch wieder, zum Beispiel aus der Einstellungs- und Vorurteilsforschung wissen wir ja eben auch, dass gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen weit in der Bevölkerung vorhanden sind. Und genau an diesen Einstellungen können dann eben extremistische Gruppen anknüpfen. Nehmen wir ein Beispiel, also salopp formuliert, wenn viele Menschen der Einstellung sind, dass Frauen an den Herd gehören, also zum Beispiel in erster Linie für die Erziehung der Kinder und für den Haushalt zuständig sind, können genau die extremistischen Gruppierungen mit ihren Geschlechterrollen daran anknüpfen und diese mit ihren Ideologien verknüpfen und unterfüttern. Und das macht sie wiederum anschlussfähig, ja, an der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Und die Krux dabei ist immer, dass natürlich extremistische Narrative nicht immer so einfach zu erkennen sind. Also es gibt natürlich solche Narrative, mit Blick auf den islamistischen Extremismus, wenn eben vom Kreuzzug gegen alle Muslime auf der Welt gesprochen wird, die sind so ein bisschen plakativer oder auf Seiten des Rechtsextremismus, wenn eben von Umvolkung gesprochen wird oder Kulturalisierung des Abendlandes. Da wissen wir zwischenzeitlich alles, das ist leichter als extremistisch zu entlarven. Aber es gibt natürlich auch Narrative, die sind viel, viel subtiler. Zum Beispiel im Bereich des islamistischen Extremismus wird auch oft gesprochen, ja, dass der Mann eben die Aufgabe hat, die Familie zu beschützen, sie zu ernähren. Also eine ganz bestimmte Männlichkeitsvorstellung. Und wenn man dem nicht nachkommt, ist man auch kein wahrer Mann. So, und das sind ja erst mal so Sachen, wo vielleicht ganz viele in der Bevölkerung, auch wenn natürlich diese Aussagen streitbar sind, aber ganz viele würden dem vielleicht erst mal zustimmen. Auch konservativ eingestellte Menschen würden dem erst mal zustimmen und würden nicht von sich nicht behaupten, dass sie extremistisch sind. So, und dadurch können sie natürlich auch dann eben auf diesen Seiten oder Aussagen erst mal sich davon angesprochen fühlen und mit der Zeit sich eben dann auch radikalisieren.

Ulrike Hoole (KN: IX): Wenn ich das jetzt mal so ein bisschen auf die Präventionsarbeit dann übertrage und übersetze, was du gerade gesagt hast, bedeutet das dann, dass phänomenübergreifendes Arbeiten vor allem in der Primärprävention sinnvoll ist, weil sich Primärprävention ja eben an eine breite Zielgruppe richtet und eben genau dann auch an Menschen, die jetzt zum Beispiel noch keine Anzeichen von Radikalisierung zeigen oder so, sondern eben zum Beispiel solche Einstellungen vertreten wie, von denen du gerade gesprochen hast. Kann man das so übertragen?

Manuela Freiheit: Ja, das kann man durchaus so übertragen. Und wir beobachten das auch in der gelebten Praxis, dass eben phänomenübergreifende oder phänomenunspezifische Ansätze insbesondere im Bereich der Primär- oder Universalprävention Anwendung finden, insbesondere eben auch in Schulen, aber auch mit Blick auf Fachkräfte oder andere Zielgruppen. Und das liegt natürlich eben daran, weil das Ziel von Primärprävention ist ja vor einer möglichen Radikalisierung oder Hinwendung zu bestimmten extremistischen Gruppierungen anzusetzen und eben die Personen, die Zielgruppen in ihrer Resilienz zu stärken, im Sinne also Personen in ihren demokratischen Werthaltungen zu stärken und sie auch zu befähigen, extremistische Narrative zu erkennen. Und da sind halt phänomeneübergreifende Ansätze in der Primärprävention gut geeignet, weil sie eben sensibilisieren können, ohne gleichermaßen auch Gefahr zu laufen, bestimmte Zielgruppen oder Risikogruppen zu stigmatisieren und zu etikettieren, weil phänomenspezifische Ansätze allein dadurch, dass sie schon eine Zielgruppe definieren, also eine gewisse Risikogruppe definieren, ja auch immer die Gefahr haben, dass sie eben bestimmte Gruppen exponieren, in den Mittelpunkt stellen, die ihrerseits sich dann wieder unter Generalverdacht gestellt sehen oder auch fühlen. Und das kann natürlich wieder zu Marginalisierung oder Diskriminierungserfahrungen führen, was wiederum, das wissen wir aus der Forschung, auch wieder Radikalisierungsprozesse triggern oder begünstigen kann, auch wenn nicht als alleiniger Faktor, sondern natürlich die anderen Faktoren, die ich vorher genannt habe, spielt natürlich auch im Zusammenspiel immer eine Rolle, weil natürlich Radikalisierungsprozesse nicht linear verlaufen, sondern individuell auch sehr verschieden sind.

Manuela Freiheit: (Musik)

Ulrike Hoole (KN: IX): In eurem Forschungsprojekt MAPEX seid ihr zu dem Schluss gekommen, dass ganz viele Präventionsprojekte schon phänomenübergreifend arbeiten. Wo würdest du denn die Grenzen dieser Arbeit sehen?

Manuela Freiheit: Also die Grenzen sehe ich insbesondere mit Blick auch auf die Unterschiede der unterschiedlichen Phänomenbereiche. Und wenn ich natürlich immer auf die Phänomenbereiche eingehe, spreche ich hauptsächlich über den Rechtsextremismus und islamistischen Extremismus. Linksextremismus ist nochmal ein bisschen anders gelagert. Dazu habe ich aber weniger Forschung gemacht und kann ich auch weniger dazu sagen. Aber jetzt auf die Frage zurückzukommen also Grenzen phänomenübergreifender Arbeit, wir haben das gerade auch schon angesprochen, ist insbesondere auch mit Blick, wenn eben Radikalisierungsprozess schon verfestigt sind. Und da sehen wir natürlich auch Unterschiede, sei es in den Narrativen. Also der Rechtsextremismus rekurriert auch eher auf das Narrativ der Etablierten, der Alteingesessenen, daher haben sie mehr Vorrechte, während eben der islamistische Extremismus in seinem Narrativ eher darauf rekurriert, gegen die Unterdrückung der Muslime weltweit, also Diskriminierungserfahrungen stärker in den Blick nimmt. Und das muss natürlich bei Personen, die schon in ihrem Radikalisierungsprozess weiter fortgeschritten sind, anders adressiert werden, um sie dann eben in ihren jeweiligen Ideologien oder in ihren jeweiligen Phasen auch besser abholen zu können. Und da zeigt sich natürlich auch Grenzen phänomenübergreifender Ansätze. Und natürlich muss ich auch mit einem Jugendlichen, der zum Beispiel Rassismus ausgeübt hat, ganz anders umgehen, wie mit einer Person, die Rassismus erfahren hat. Auch da bedarf es unterschiedlicher Ansätze. Ein weiterer Unterschied ist natürlich auch der Jenseitsbezug im islamistischen Extremismus. Das erfordert von der Präventionspraxis auch eine gewisse Religionssensibilität, die wir im Bereich des Rechtsextremismus nicht benötigen, dafür sind andere Kompetenzen wieder notwendig, um eben auch Impulse setzen zu können, die eben dann bei eventuell radikalisierten Personen dann auch Fragen aufwerfen und dazu führen, dass wir bestimmte vielleicht Weltbilder noch mal kritisch hinterfragen, die ihnen eben dann die jeweilige Ideologie bieten, sodass man natürlich ganz unterschiedlicher Ansätze dazu bedarf, eben dann auch phänomenspezifische Ansätze, um das besser adressieren zu können.

Ulrike Hoole (KN: IX): Würdest du sagen, das heißt dann auch, dass man in der Sekundär- und Tertiärprävention mehr phänomenspezifisches Wissen benötigt, als zum Beispiel in der Primärprävention?

Manuela Freiheit: Ja, das ist eine komplizierte Frage. Also ich würde nicht sagen, dass in dem einen oder anderen mehr oder weniger phänomenspezifisches Wissen benötigt wird, sondern nämlich auch im phänomenübergreifenden oder phänomenunspezifischen Arbeiten. Es ist eine große Herausforderung, dass man in beiden oder in mehreren Phänomenenbereichen sich sehr gut auskennen muss, um dann in den jeweiligen Situationen, um wieder auf die Schule zurückzukommen, eben dann auch Aussagen von jungen Menschen erkennt. So, wenn sie bestimmte Namen fallen lassen, sei es aus dem Bereich des islamistischen Extremismus oder aus Bereich des Rechtsextremismus, ist es natürlich auch notwendig, dass die Präventionspraxis, also die Akteure, die zivilgesellschaftlichen Träger, das erkennen und eben aufnehmen können und dann jeweils in ihren Maßnahmen, Projekten, thematisieren können. Aber natürlich ist beim phänomenspezifischen Arbeiten jetzt gerade mit Blick auf die Sekundärprävention oder Tertiärprävention ist natürlich auch vielleicht eine andere Tiefe erforderlich. Aber so pauschal lässt sich das eben nicht sagen, sondern sowohl als auch, würde ich sagen.

Manuela Freiheit: (Musik)

Also besonders am Herzen liegt mir in diesem Bereich, oder wenn wir darüber sprechen, auch noch mal darauf zu verweisen, dass es jetzt nicht nur darauf ankommt, ob ich phänomenspezifisch oder phänomenübergreifend arbeite, sondern dass wir insbesondere auch strukturelle Benachteiligung in den Blick nehmen. Also, wir wissen auch aus der Forschung, dass soziale Ungleichheit eine ganz, ganz wesentliche Rolle spielt bei der Hinwendung zu extremistischen Gruppierungen, bei Radikalisierungsprozessen. Und da ist es natürlich so: Wenn wir dagegen nichts machen und da nicht genau hinschauen in der Forschung, in der Politik oder eben auch in der Praxis, dann ist das Ganze, sind auch phänomeneübergreifende Ansätze oder phänomenunspezifische oder phänomenspezifische Ansätze auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Also hier muss auch insbesondere auf die soziale Ungleichheit geblickt werden, zum Beispiel die unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten von Menschen und auch, dass sich hier mehr Gleichheit einstellt und soziale Ungleichheit reduziert wird.

Also besonders am Herzen liegt mir in diesem Bereich, oder wenn wir darüber sprechen, auch noch mal darauf zu verweisen, dass es jetzt nicht nur darauf ankommt, ob ich phänomenspezifisch oder phänomenübergreifend arbeite, sondern dass wir insbesondere auch strukturelle Benachteiligung in den Blick nehmen. Also, wir wissen auch aus der Forschung, dass soziale Ungleichheit eine ganz, ganz wesentliche Rolle spielt bei der Hinwendung zu extremistischen Gruppierungen, bei Radikalisierungsprozessen. Und da ist es natürlich so: (Musik)

Charlotte Leikert (KN: IX): Manuela hat uns jetzt gerade einige Einblicke in die wissenschaftliche Perspektive auf phänomenübergreifendes Arbeiten gegeben. Was es bedeutet, in der Präventionspraxis phänomenübergreifend zu arbeiten, darüber haben wir mit Dženeta Isaković gesprochen. Sie ist Islam- und Politikwissenschaftlerin und arbeitet bei Mosaik Deutschland e.V. in Heidelberg. Dort ist sie Referentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung und verantwortet den Bereich Prävention von Extremismus und Hassgewalt. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Radikalisierungsprävention und der Antidiskriminierungsarbeit. Dženeta, vielleicht ganz zu Anfang, willst du zwei Sätze mal zu deinem Projekt sagen?

Dženeta Isaković: Also das Projekt nennt sich Quwwa - Stärke statt Sprachlosigkeit und ist 2017 quasi losgetreten worden. Und ich bin seit 2018 dabei und habe dann Mitte des Jahres die Projektleitung übernommen. Das Projekt wurde ursprünglich initiiert, um eben Islamismusprävention beziehungsweise sogar Salafismusprävention zu leisten, in Heidelberg für Heidelberger Schulen. Und es ist ein Kooperationsmodell also zwischen uns, Mosaik Deutschland und dem Verein Sicheres Heidelberg e.V. und dem Polizeipräsidium Mannheim.

Charlotte Leikert (KN: IX): In der Folge heute geht es ja um phänomenübergreifende Arbeit. Und mit dir wollen wir vor allen Dingen darüber sprechen, was das denn konkret bedeutet. Aber als thematischen Einstieg: Woran denkst du, wenn du das, den Begriff „Phänomenübergreifende Arbeit“ hörst?

Dženeta Isaković: Dann denke ich daran, dass wir in unserer Arbeit nicht nur ein Extremismusphänomen bearbeiten, sondern dass in der Arbeit mehrere Phänomenbereiche zum Tragen kommen. Also dass wir nicht nur über Islamismus sprechen, sondern auch über Rechtsextremismus, vielleicht sogar Linksextremismus oder auch andere Formen.

Charlotte Leikert (KN: IX): Also würdest du schon sagen, deine erste, deine ersten Gedanken gehen an die unterschiedlichen Extremismen oder spielen da auch GMF-Merkmale eine Rolle?

Dženeta Isaković: Auf jeden Fall. Also das spielt sogar vielleicht eine Hauptrolle in dem Ganzen, weil das ja quasi die Strukturmerkmale, die gemeinsamen Strukturmerkmale aller Extremismusphänomene darstellt. Und daran denke ich auf jeden Fall auch, wenn ich an diesen Begriff denke.

Charlotte Leikert (KN: IX): Dann lass uns doch direkt zu deiner Arbeit gehen, beziehungsweise der Arbeit von dir und deinem Team. Wo ergibt es eigentlich aus deiner Sicht aus der Praxis Sinn, phänomenübergreifend zu arbeiten?

Dženeta Isaković: Insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppen, da macht es vor allem Sinn, beispielsweise mit Jugendlichen, das ist ja unsere primäre Zielgruppe, mit der wir arbeiten. Da halte ich es für sehr sinnvoll, phänomenübergreifend zu arbeiten, weil wir uns ja praktisch die menschenfeindlichen Positionen anschauen, die in der Mitte der Gesellschaft ja auch vorhanden sind. Dass man da zeigt, die kommen nicht nur von einer Gruppierung in der Gesellschaft, sondern die kommt von ganz unterschiedlichen Ecken und die sind auch eben bei nicht extremistisch orientierten Menschen vorzufinden. Und da halte ich es eben sehr sinnvoll, phänomenübergreifend zu arbeiten und auf all diese Gemeinsamkeiten, Ursachen und Hintergründe hinzuweisen.

Charlotte Leikert (KN: IX): Kannst du vielleicht ein Beispiel nennen, wie ein ganz konkreter, konkreter Workshop von euch aussieht, in dem ihr phänomenübergreifende Arbeit aufgreift?

Dženeta Isaković: Ja, gerne. Also beispielsweise machen wir das Thema Populismus in der letzten Zeit sehr stark in den Workshops zum Vordergrundthema. Und da zum Beispiel setzen wir das anhand einer praktischen Methode so um, dass wir beispielsweise, ja, populistische Zitate mit den Jugendlichen besprechen und die auch teilweise wirklich von ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten geäußert wurden, die auch nicht zwangsläufig miteinander irgendwie zusammenhängen und in einer Organisation agieren. Und anhand dieser Beispiele kann man zum Beispiel sehen, dass das mit phänomenübergreifendem Arbeiten auch ganz gut gelingen kann. Da kommen wir ins Gespräch, die Jugendlichen können dann ihre Ideen quasi mitgeben, woher sie, woher diese Zitate kommen könnten, was die Ursachen dafür sind, wo sie diese Zitate vielleicht noch gehört haben. Und dann schauen, dann sehen sie eigentlich direkt die Gemeinsamkeiten unterschiedlichster Gruppierungen der Gesellschaft.

Charlotte Leikert (KN: IX): Okay, das mit dem Populismus leuchtet mir ein mit dem phänomenübergreifenden Ansatz. An welchen Stellen würdest du sagen, ist es denn auch sinnvoll, dann phänomenspezifisch zu arbeiten?

Dženeta Isaković: Insbesondere in der Arbeit mit Multiplikator*innen. Da halte ich es für sehr sinnvoll, weil die Multiplikator*innen kommen ja zu uns mit einem konkreten Bedarf. Also sie wollen sich zu einem bestimmten Feld weiterbilden. Beispielsweise ist das eben der religiös begründete Extremismus bei uns in unserem Projekt. Und wenn wir, wenn sie diese Erwartung haben, sie wollen sich dazu weiterbilden, dann müssen wir natürlich entsprechende Informationen auch bieten in diesem Bereich. Da können wir jetzt nicht mit anderen Phänomenbereichen um die Ecke kommen und versuchen, da die Gemeinsamkeiten aufzuzählen. Das können wir natürlich erwähnen, machen wir auch. Aber da ist natürlich primäres Ziel, die Bedürfnisse der Teilnehmenden auch irgendwie zu stillen. Da arbeiten wir phänomenspezifisch.

Charlotte Leikert (KN: IX): Das heißt also, du würdest da ein Unterschied machen, wo es Sinn ergibt, phänomenspezifisch oder - übergreifend zu arbeiten, auch nach Zielgruppe? Habe ich das richtig verstanden?

Dženeta Isaković: Ja, definitiv. Wobei ich auch sagen würde, dass es durchaus in beiden Zielgruppen, sowohl Jugendliche als auch Multiplikator*innen möglich, sowohl phänomenspezifisch als auch phänomenübergreifend zu arbeiten. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber dadurch, dass wir ja bei den Jugendlichen keine Gefahr erst mal annehmen, sondern wir sagen das ist ja wirklich prophylaktisch, was wir machen, vorbeugend für die Zukunft, darum halten wir es für sinnvoll, auch für alle Phänomenbereiche irgendwie zu sensibilisieren. Und bei den Erwachsenen, die ja mit einer anderen Vorstellung zu uns kommen, halten wir es eben bei uns für sinnvoller, auch aus unseren Praxiserfahrungen, phänomenspezifisch zu arbeiten.

Charlotte Leikert (KN: IX): In dem Fall spielt das ja sicher auch eine Rolle, in welchem Bereich der Präventionsarbeit du das Projekt verortest, oder?

Dženeta Isaković: Ja, definitiv, genau. Wir sind ja universalpräventiv unterwegs und da ist das natürlich was komplett anderes, als wenn wir jetzt in der Deradikalisierungsarbeit wären, beispielsweise.

Charlotte Leikert (KN: IX): Würdest du schon sagen, ihr verortet euch primär im Bereich phänomenspezifische Arbeit, als Projekt im Bereich Islamismus, oder wie würdest du das formulieren?

Dženeta Isaković: Nein, ich würde tatsächlich sagen, dass wir uns im Bereich phänomenübergreifende Arbeit verorten, dadurch, dass wir eben mit so unterschiedlichen Gruppen arbeiten und dementsprechend auch unterschiedliche Formate, unterschiedliche Methoden zum Tragen kommen, unterschiedliche Zielsetzungen, ja, vordergründig sind. Darum würde ich wirklich sagen, dominiert bei uns das Phänomenübergreifende. Wir arbeiten ja auch oft in Kooperationen mit anderen Partnereinrichtungen und da kommt oft von den Partnereinrichtungen auch ein anderes Feld, das bespielt wird. Sagen wir mal, wir setzen den Schwerpunkt auf Islamismus, sie setzen vielleicht den Schwerpunkt auf Rechtsextremismus und dann ist ja die Veranstaltung automatisch phänomenübergreifend.

Charlotte Leikert (KN: IX): Ich stelle mir das tatsächlich auch herausfordernd vor, diesen phänomenübergreifenden Ansatz dann auch tatsächlich umzusetzen, weil man ja verschiedenes Wissen über die ganzen Phänomenbereiche braucht. Ist das für euch eine Herausforderung im Projekt?

Dženeta Isaković: Nein, ich würde sagen nein, weil wir uns die entsprechende Expertise ja auch holen können. Also wenn wir das selber nicht leisten können, und es kann glaube ich kaum jemand so leisten, in jedem Phänomenbereich super viel Wissen mitzubringen, holen wir uns einfach die entsprechenden, die entsprechende Expertise und die Partner. Und da haben wir ja glücklicherweise ein großes, einen großen Pool an Einrichtungen, auf die wir zurückgreifen können, sowohl kommunal als auch landesweit und bundesweit natürlich. Also ein Beispiel, wie wir phänomenübergreifend arbeiten, ist in unserem Heidelberger Präventionsnetzwerk. Wir haben es betitelt mit „Arbeitskreis Präventiv gegen Extremismus, Diskriminierung und Hassgewalt“. Da kommen ganz unterschiedliche Akteure und Akteurinnen aus der Kommune zusammen, aus Wissenschaft, also die forschend unterwegs sind, sozusagen aber auch von städtischen Ämtern, beispielsweise das Ordnungsamt der Stadt Heidelberg oder auch das Amt für Chancengleichheit sitzt bei uns am Tisch. Wir haben zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die sich nicht nur im Bereich der Bildung verorten, sondern auch in anderen Bereichen tätig sind, beispielsweise beraterisch. Und wir sitzen da zusammen an einem Tisch. Und aus dem Netzwerk heraus ergeben sich Fragestellungen und Querschnittsthemen, die wir dann versuchen gemeinsam im Netzwerk auch zu bearbeiten. Da entstehen auch gemeinsame Tagungen, gemeinsame andere Veranstaltungsformate und da ist es dann gar nicht so schwer, diesen phänomenübergreifenden Ansatz umzusetzen. Klar, also es bedarf erst mal das Wissen darüber, wer alles aktiv ist, was genau die leisten können. Aber, gemeinsam mit diesen unterschiedlichen Disziplinen, die mit uns am Tisch sitzen, ist es eigentlich eine gut zu bewerkstelligende Aufgabe. Alleine als zivilgesellschaftliche Einrichtung, die sich in einem einzigen Bereich verortet, ist es natürlich was anderes, sehr schwierig.

Charlotte Leikert (KN: IX): Du hattest gerade gesagt oder zu Anfang, dass ihr euch dafür entschieden habt, in Kontakt mit Jugendlichen vor allen Dingen phänomenübergreifend zu arbeiten. Könntest du da noch mal kurz näher darauf eingehen, wieso ihr euch da explizit gegen einen phänomenspezifischen Ansatz entschieden habt?

Charlotte Leikert (KN: (Musik)

Dženeta Isaković: Genau. Also einer der Gründe, warum wir dagegen sind, ist einfach weil wir befürchten, Jugendliche damit zu stigmatisieren, ob sie jetzt im Raum sitzen, also quasi ob sie im Workshop überhaupt dabei sind oder nicht, spielt dabei erstmal keine Rolle. Wir haben ja auch, wir fahren ja auch einen rassismuskritischen Ansatz, diskriminierungskritischen Ansatz und da spielt es eigentlich keine Rolle, ob die Person da ist oder nicht, über die wir sprechen. Also wir wollten einfach keine Jugendlichen oder überhaupt niemanden in eine Ecke stellen und irgendwie problematisieren. Darum sind wir von Anfang an, also schon zu Projektbeginn, eigentlich davon weggekommen. Genau, jetzt haben wir gedacht, logischer wäre es eigentlich, auf diese Gemeinsamkeiten einzugehen, auf die Ungleichwertigkeitsideologien, auf die Radikalisierungsfaktoren, die hinter diesen Prozessen, Radikalisierungsprozessen, stecken. Und zu problematisieren, dass es sie einfach überall gibt, dass sie potenziell überall vorkommen können und dass die Jugendlichen einfach bestärkt werden, die in der Gesamtgesellschaft wahrzunehmen und zu erkennen und zu dekonstruieren letztendlich. Und da ist es ja genauso wichtig, ein islamistisches Narrativ zu erkennen wie ein rechtsextremistischer Narrativ.

Charlotte Leikert (KN: IX): Das heißt aber, ihr sprecht in den Workshops dann schon auch die einzelnen Phänomene an, um was du gerade meintest, zu dekonstruieren und auch die Narrative also den Jugendlichen einfach näherzubringen, damit sie auch erkennen können. Aber ihr geht nicht mit quasi nur einem Phänomen im Gepäck in die Klasse, sondern…

Dženeta Isaković: Genau, also wir sprechen sie an, aber meistens müssen wir gar nicht davon anfangen, sondern meistens kommt das ja schon aus den Gruppen heraus. Wenn man darüber spricht, wo, wo tauchen solche Meinungen auf, wo taucht so eine Ideologie auf, dann kommt es ja von den Jugendlichen und wir können einfach darauf aufbauen. Und da wir ja uns in der politischen Bildung verorten, ist ja Kontroversität sehr wichtig. Also wir müssen ja auch irgendwie Gegenpositionen einbringen beziehungsweise auch verschiedene gesellschaftliche Positionierungen auch mit reinnehmen in diese Veranstaltung, um den Jugendlichen auch klarzumachen, dass es nicht so einseitig ist. Das gibt es vielleicht nicht nur in dieser Ecke, das gibt es vielleicht auch in anderen Bereichen der Gesellschaft und in der Hinsicht fahren wir auf dieser Schiene.

Dženeta Isaković: (Musik)

Charlotte Leikert (KN: IX): Du hast es ja gerade gesagt, ihr verortet euch im Bereich der Universalprävention beziehungsweise dann auch mit einem Bein in der politischen Bildung, oder auch zwei. Wenn du jetzt auch die Debatten insgesamt im Präventionsbereich im Kopf hast, würdest du sagen, in anderen Präventionsbereichen ergibt ein phänomenspezifisches Angebot mehr Sinn als in eurem Bereich?

Dženeta Isaković: Ja sicher. Also ich denke mal in der selektiven oder Sekundärprävention, in der Tertiärprävention sowieso. Bei der Sekundärprävention, da würde ich mich jetzt nicht festlegen wollen, ob vielleicht auch ein phänomenübergreifender Ansatz auch sinnvoll wäre. Bei der Deradikalisierung denke ich schon, dass es sinnvoller wäre, eben spezifisch zu arbeiten. Also ich glaube, es könnte sogar kontraproduktiv sein, phänomenübergreifend zu arbeiten. Wenn ich daran denke, dass Sozialarbeiter in die JVAs gehen mit jemandem, der rechtsextremistische Tendenzen aufweist und dann sensibilisieren sie diese Person für andere Phänomenbereiche und bestärken damit nur das Feindbild, das ohnehin schon existiert oder auch umgekehrt. Dann kann ich mir vorstellen, dass es eher nach hinten losgeht.

Dženeta Isaković: (Musik)

Charlotte Leikert (KN: IX): Weil du ja auch meintest, das ergibt für euch Sinn, das herauszustellen, dass die Positionen und Einstellungen nicht nur in einem Extremismusbereich sind, sondern auch in verschiedenen Extremismen, aber auch in der Mitte der Gesellschaft. Inwiefern spielt das für euch eine Rolle, dass es quasi in der Mitte der Gesellschaft diese Anschlussfähigkeit gibt für die Positionen?

Dženeta Isaković: Das ist eine sehr gute Frage. Also es spielt auf jeden Fall eine große Rolle, auch im Hinblick auf die Arbeit mit den Multiplikator*innen, die kommen zu uns, mit einem bestimmten Interesse weitergebildet zu werden in einem Themenfeld, bringen aber oft bestimmte problematische Denkstrukturen schon mit, also zum Beispiel Vorurteile, die schon ziemlich gefestigt sind. Manchmal würde ich schon sagen, dass es sich um antimuslimischen Rassismus handelt, in manchen Fällen. Und in der Hinsicht finde ich es sehr, sehr wichtig, dass man eben auf diese Dinge hinweist.

Charlotte Leikert (KN: IX): Und die dann auch in einer Fortbildung oder Weiterbildung zu Islamismus auch aufgreift und thematisiert. Oder wie meinst du das?

Dženeta Isaković: Ja, genau richtig. Um auch zu zeigen, die Jugendlichen, mit denen ihr tagtäglich zu tun habt, das sind die Jugendlichen, die auch teilweise solche Erfahrungen machen von antimuslimischem Rassismus oder einfach Benachteiligung, Ausgrenzung, teilweise eben auch von Autoritätspersonen, von Personen, zu denen sie vielleicht eigentlich einen guten Draht haben sollten, eine gute Beziehung. Und darum ist es eben superwichtig, dass sie auch sensibilisiert werden für dieses Feld, nicht nur zum Thema Extremismus.

Charlotte Leikert (KN: IX): Dann würde ich von unserer Seite mich bedanken. Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast und die Energie.

Dženeta Isaković: Danke auch für die Einladung. Es war mir eine Ehre.

Ulrike Hoole (KN: IX): Für uns ist in den Interviews mit unseren Expertinnen klar geworden, dass phänomenübergreifende Ansätze in der Radikalisierungsprävention viele Chancen bieten, aber auch einige Grenzen haben und dass phänomenspezifisches Wissen weiterhin in allen Bereichen der Prävention wichtig bleibt. Das Thema phänomenübergreifende Arbeit bietet auch weiterhin Stoff für Diskussionen. Heute haben wir uns ja zum Beispiel vor allem auf den Bereich der Primärprävention fokussiert, im Bereich der Distanzierung wären noch einmal ganz andere Aspekte wichtig. Wenn Sie mehr zu dem Thema der heutigen Folge lesen möchten: Die fünfte Ausgabe unserer Fachzeitschrift Ligante, die eben erschienen ist, widmet sich diesem Thema.

Charlotte Leikert (KN: IX): Außerdem haben unsere Kollegen Rüdiger José Hamm und Axel Schurbohm einen Artikel dazu in dem jährlichen Report des Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ veröffentlicht, der Ende des Jahres erscheint.

Diese Folge wurde von der BAG RelEx im Rahmen von KN: IX umgesetzt. Inhaltliche Vorbereitung, Moderation und technische Umsetzung: Charlotte Leikert und Ulrike Hoole. Postproduktion: Tonstudio Patric Louis.

Diese Folge wurde von der BAG RelEx im Rahmen von KN: (Abspann Musik)

Charlotte Leikert (KN: IX): Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Network, ufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Kanal und schauen Sie auf www.kn-ix.de vorbei. Sie wollen sich direkt bei uns melden? Dann schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an info@kn-ix.de. KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie Leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Bayrischen Landeskriminalamt, dem Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“.

Charlotte Leikert (KN: (Abspann Musik)

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